Desire Lines
Sarah Doerfel
Len Lye
Yana Zschiedrich
Kuratiert von Carola Uehlken
Eingeladen von Keumhwa Kim
Eröffnung: 5. Mai 2023, 18:00 – 22:00 Uhr
Ausstellung: 6. – 14. Mai 2023
Finissage: 14. Mai 2023, 14:00 – 19:00 Uhr
Animiert durch Stadt- und Landschaftsarchitekturen kommt es nur selten vor, dass Desire Lines entstehen. “Trampelpfade” sind durch den Verkehr von Menschen und Tieren verursachte Erosionslinien, die sich allmählich in die Landschaft zeichnen. “Die Linien, die uns leiten, sowohl als Denk- als auch als Bewegungslinien, sind (...) performativ: Sie hängen von der Wiederholung von Normen und Konventionen, von Wegen und Pfaden ab, die gegangen werden, aber sie werden auch als Effekt dieser Wiederholung geschaffen”. (Sara Ahmed, What's the Use? On the Uses of Use, 2019)
Das Verlangen (Desire) nach Auswegen (Lines) aus gesellschaftlichen Konventionen steht in der Ausstellung Desire Lines kuratiert von Carola Uehlken im Vordergrund. Die künstlerischen Arbeiten von Sarah Doerfel, Len Lye und Yana Zschiedrich beschäftigen sich mit Einzellern, Mehlwürmern und Blutegeln und machen sie zu den Protagonisten innovativen Materialabbaus und alternativer Medizin. Die Betrachtung wirbelloser Tiere löst im Menschen häufig sensorische Basisemotionen des Ekels aus. Bereits Charles Darwin sah in der Auseinandersetzung mit dem Ekel kommunikative Gesten und das Potential gesellschaftlicher Veränderung. Im Gehirn ist der Ekelreflex im limbischen System angelegt, wo Emotionen und Triebe verarbeitet werden. Wo sind die Grenzen, an denen wir Dinge lustvoll betrachten zu den Dingen, die wir abstoßend finden?
In Yana Zschiedrichs Arbeit Hybris zersetzen Mehlwürmer Dämmmaterial aus extrudiertem Polystyrol. Gesteuert durch die Schablonen- und Fütterungsroutinen der Künstlerin produzieren sie Reliefs. Für die Ausstellung wurden sie mit den Abbildungen mythologischer Frauenfiguren gefüttert, die Verbrechen gegen die natürliche Ordnung rächen, den Erynnien. Kulturgeschichtlich erscheinen sie häufig mit Schlangen als Haare, Hundeköpfen, Flügeln von Fledermäusen oder blutunterlaufenen Augen. Die Verwendung der Eigenschaften von Tieren als Attribute des Schreckens oder Ekels ist in sämtlichen Kulturkreisen gängig, vor allem aber in der katholischen Kirche. „(...) und zahllose Arten von Insekten, Reptilien und Ungeziefern (sind) Inkarnationen und Instrumente des Teufels; ...“ (Edward Payson Evans, Animal Trials, 1996)
In seiner experimentellen Animation Tusalava von 1929 beschäftigte sich der Künstler Len Lye mit der Evolution, indem er die Bewegung und Interaktion von Lebensformen direkt in rund 4400 Zeichnungen einschrieb. Aus einzelnen Zellen entwickeln sich komplexere Organismen, bis sich zwei Arten herausbilden, die dann in einen Wettstreit um die Vorherrschaft geraten. Es ist schwer zu sagen, ob sie sich auch parasitär voneinander ernähren könnten, oder ob sie eher eine symbiotische Beziehung eingehen. Lyes Animationsstil ist von der Kunst der australischen Aborigines inspiriert. Der samoanische Titel Tusalava bedeutet "das Gleiche". Ursprünglich wurde der Film mit einer von Jack Ellitt komponierten Klaviermusik gezeigt, die leider verloren gegangen ist.
Sarah Doerfel wirft in ihrer Videoarbeit Truce (2021) einen Blick auf symbiotische und parasitäre Beziehungen zwischen Menschen und Blutegeln. Das Video begleitet den Zuchtalltag in Europas größter Blutegelfarm und einen Aktivisten, der sich mit Leechylove für die artgerechte Pflege nach der medizinischen Anwendung einsetzt. Egel wurden seit Jahrtausenden, vermutlich schon in der Steinzeit, und in zahlreichen Kulturen weltweit zur medizinischen Behandlung eingesetzt. Auch Tiere nutzen sie zur Selbstmedikation, zum Beispiel bei Arthrose.
Die Wirkung des chemischen Speichelcocktails besteht in seiner stark entzündungshemmenden und blutverdünnenden Wirkung. Er setzt sich regional leicht unterschiedlich zusammen und eignet sich besonders für lokal vorkommende Krankheiten. Durch den vermehrten Einsatz medizinischer Blutegel wurden die natürlichen Bestände stark dezimiert. Mittlerweile sind sie in Europa nur noch in wenigen Gebieten in ihrer natürlichen Umgebung zu finden und stehen unter Naturschutz.
Für weitere Informationen wenden Sie sich per E-Mail an carolauehlken@gmail.com
Special thanks to the Len Lye Centre, New Plymouth, New Zealand
Tusalava courtesy of the Len Lye Foundation.
*
Animated by urban and landscape architecture, it is rare that Desire Lines are created. These "Trampling trails" are erosion lines caused by human and animal traffic that gradually draw themselves into the landscape. "The lines that guide us, both as lines of thought and as lines of movement, are (...) performative: they depend on the repetition of norms and conventions, of paths and trails that are walked, but they are also created as an effect of that repetition." (Sara Ahmed, What's the Use? On the Uses of Use, 2019)
The desire for escape routes from social conventions is the focus of the exhibition Desire Lines curated by Carola Uehlken. The art works of Sarah Doerfel, Len Lye and Yana Zschiedrich deal with protozoa, mealworms and leeches, making them the protagonists of innovative material breakdown and alternative medicine. The contemplation of invertebrate animals often triggers basic sensory emotions of disgust in humans. Charles Darwin already saw communicative gestures and the potential for social change in the confrontation with this feeling. In the brain, the disgust reflex is located in the limbic system, where emotions and instincts are processed. Where are the boundaries between looking at things with pleasure and looking at things that we find repulsive?
In Yana Zschiedrich's work Hybris, mealworms decompose insulation material made of extruded polystyrene. Controlled by the artist's templates and feeding routines, they produce reliefs. For the exhibition, they were fed with the images of mythological female figures who avenge crimes against the natural order, the Erynnien. In cultural history, they often appear with snakes as hair, dog heads, wings of bats or bloodshot eyes. The use of the characteristics of animals as attributes of horror is common in all cultural circles, but especially later in the Catholic Church. "(...) and innumerable species of insects, reptiles, and vermin (are) incarnations and instruments of the devil; ..." (Edward Payson Evans, Animal Trials, 1996)
In his 1929 experimental animation Tusalava, the artist Len Lye dealt with evolution, inscribing movement and interaction of life forms directly into around 4400 drawings. From single cells, more complex organisms develop, until two species emerge, which then get into a competition for supremacy. It is hard to tell, if they could also parasitically feed on each other, or if they form a rather symbiotic relationship. Lye's animation style shows inspiration from Australian Aboriginal art. The Samoan title Tusalava means „the same“. Originally the film was shown with piano music composed by Jack Ellitt.
In her video work Truce (2021), Sarah Doerfel takes a look at symbiotic and parasitic relationships between humans and leeches. The video accompanies the everyday breeding routine in Europe's largest leech farm and an activist who founded leechylove to advocate for species-appropriate care after medical use. Leeches have been used for medical treatment for thousands of years, probably as far back as the Stone Age, and in numerous cultures around the world. Animals also use them for self-medication, for example, for arthritis. The effect of the chemical saliva cocktail consists in its strong anti-inflammatory and blood-thinning effect. Its composition varies slightly from region to region and is particularly suitable for locally occurring diseases. Due to the increased use of medical leeches, the natural populations have been severely decimated. In Europe, they can only be found in a few areas in their natural environment and are under nature protection.
For more information, email carolauehlken@gmail.com
Special thanks to the Len Lye Centre, New Plymouth, New Zealand.
Tusalava courtesy of the Len Lye Foundation.
Sarah Doerfel lebt und arbeitet in München. In ihrer multimedialen Arbeit bilden Hintergründe aus Biologie, Medizin- und Kulturgeschichte die Grundlage für körperliche Spekulationen, wie z.B. die Dynamiken zwischen Symbiose und Parasitismus, und die damit verwobene Volksmedizin. Ihre Arbeiten wurden international gezeigt, u.a. im Museum Hamburger Bahnhof, Berlin, im Macro Museo, Rom, und im Kunstverein München. Sie erhielt u. a. Stipendien von der Stiftung Kunstfonds, dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München und der LfA Förderbank Bayern.
Len Lye (1901 - 1980, Neuseeland) war ein Pionier des experimentellen Films und der kinetischen Skulptur. Sein frühes Interesse an Animation führte zu Experimenten mit unterschiedlichsten Techniken. Indem er auf den Film zeichnete und kratzte, eine Methode, die er als "direkte Animation" bezeichnete, versuchte er, Bewegung zu komponieren, so wie Musiker Klang. Diese halb abstrakten Filme griffen häufig auf die Kunstformen der Maori, der Aborigines und der Samoaner zurück. Als Schriftsteller schuf er eine Reihe von Werken, die sich mit seiner Theorie des IHN (Individual Happiness Now) befassen.
Yana Zschiedrich, lebt und arbeitet in Leipzig. Sie untersucht, wie Architektur von politischen Interessen geprägt ist und welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft, die menschliche Psyche und das Ökosystem hat. Ihre Arbeiten entstehen meist durch Subtraktionsprozesse unter Verwendung verschiedener digitaler und analoger Medien. Dabei konzentriert sie sich auf Materialien wie Beton, Stahl, Glas, Styrodur, etc., die starke Bezüge zur Bauindustrie herstellen und auf standardisierte Produktionsprozesse verweisen.
Carola Uehlken ist eine transdisziplinäre Kuratorin mit Sitz in Berlin. In ihrer Arbeit werden der Gerichtssaal, Regierungssysteme und der Verwaltungsapparat zu Werkzeugen, um über ihre performative Ästhetik, ihre Linguistik und ihre häufig bitteren Auswirkungen auf marginalisierte Gruppen, nicht-menschliche Spezies und geopolitische Infrastrukturen zu reflektieren. Mit Ungehorsam, Chaos und Humor eröffnet sie alternative Lesarten von Vergangenem und Zukünftigem, in denen durch Kollaboration und Partizipation neue, “weirde” Narrative entstehen dürfen.